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Das Phänomen

kaum zu hören, kaum zu sehn.

Ganz früh schon fängt es in uns an.

Das ist das Raffinierte daran.

 

Als Kind hat man‘s noch nicht gefühlt.

Hat noch mit allen schön gespielt.

Das Dreirad hat man sich geteilt.

Und niemand hat deshalb geheult.

 

Doch dann hieß es von oben her:

„Mit dem da spielst du jetzt nicht mehr.

Das will ich nicht noch einmal sehn!“

Was ist das für ein Phänomen?

 

Und ist man größer macht man’s auch.

Das scheint ein alter Menschenbrauch.

Nur weil ein andrer anders spricht

und hat ein anderes Gesicht.

 

Und wenn man’s noch so harmlos meint:

Das ist das Anfangsbild vom Feind.

„Er passt mir nicht, er liegt mir nicht!

Ich mag ihn nicht und find ihn schlicht

 

geschmacklos und hat keinen Grips

Und außerdem: Sein bunter Schlips!“

Dann setzt sich in Bewegung leis,

der Hochmut und der Teufelskreis.

 

Und sagt man was dagegen mal,

dann heißt‘s: Wer ist denn hier normal?

Ich oder er? Du oder ich?

Ich find den Typen widerlich!“

 

Und wenn du einen Penner siehst,

der sich sein Brot vom Dreck aufliest.

Dann sagt ein Mann zu seiner Frau:

„Guck dir den Schmierfink an, die Sau!

 

Verwahrlost bis zum Dorthinaus!

Ja, früher, früher warf man die gleich raus!

Und heute muss ich sie ernährn.

Und unsereins darf sich nicht wehrn!

 

Und auch die ganze Gastarbeiterpest!

Der letzte Rest vom Menschenrest!

Die sollt man alle, das tät gut,

Spießrutenlaufen lassen bis aufs Blut!“ –

 

Das hamwa doch schon mal gehört?

Da hat man die gleich streng verhört,

verfolgt, gehetzt und für und für

ins Lager reingepfercht und hier,

 

hier hat man sie erschlagen all,

die Kinder mal auf jeden Fall.

Die hatten keinem was getan!

Was ist das für ein Größenwahn!?

 

Das lodert auf im Handumdrehn

Und ist auf einmal Weltgeschehn.

Denn plötzlich steht an jedem Haus:

Die Türken und Zigeuner raus!

 

Nur weil kein Mensch derselbe ist

und schwarz und weiß und gelbe ist,

wird er verbrannt ob Frau ob Mann.

Und das fängt schon von klein auf an. -

 

Und wenn ihr heute Dreirad fahrt,

ihr Sterblichen, noch klein und zart.

Es ist doch eure schönste Zeit,

voll Phantasie und Zärtlichkeit.

 

Lasst keinen kommen, der da sagt,

dass ihm dein Spielfreund nicht behagt.

Dann stellt euch vor das Türkenkind,

dass ihm kein Leids und Tränen sind.

 

Dann nehmt euch alle an der Hand.

Und nehmt auch den, der nicht erkannt:

Das früh schon in uns allen brennt,

das, was man den Faschismus nennt.

 

Nur wenn wir EINS sind überall,

dann gibt es keinen neuen Fall

von Auschwitz bis nach Buchenwald.

Und wer’s nicht fühlt, der merkt es bald.

 

Nur wenn wir IN uns alle sehn,

besiegen wir das Phänomen.

Nur wenn wir IN uns alle sind,

fliegt keine Asche mehr im Wind. –

(Hans-Dieter Hüsch)